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Wappen des Gouvernements Kurland

Wappen des Gouvernements
Kurland

Die Deutschbalten in Kurland 1897

Unter Deutschbalten werden im folgenden gemäß der Ersten Allgemeinen Volkszählung im Russischen Reich 1897 alle in Kurland lebenden Personen verstanden, die bei der Zählung Deutsch als ihre Muttersprache angegeben hatten, Somit wurden - wie bei anderen Nationalitäten - zu den Deutschen nicht nur  Christen, sondern auch die  Deutschsprachigen mit jüdischer Konfession gezählt. Die Erfassung der Nationalitäten bei dieser Volkszählung nach den Muttersprachen war zwar ein naheliegendes, aber schon damals nicht unproblematisches Verfahren (1), denn hierdurch wurden z. B. bei den Deutschbalten zwei Bevölkerungsgruppen, nämlich Personen christlichen und jüdischen Glaubens, zusammengefasst, die im damaligen Russland einen sehr unterschiedlichen Rechtsstatus hatten. Personen jüdischen Glaubens unterlagen erheblichen rechtlichen Diskriminierungen, die erst aufgehoben wurden, wenn sie zum christlichen Glauben konvertierten.(2) Dieses ist wegen des hohen Anteils der Personen jüdischen (mosaischen) Glaubens an der Gesamtzahl der Personen mit deutscher Muttersprache (Tab. 1) bei der Beurteilung der sozialen Stellung der Deutschbalten in Kurland zu berücksichtigen:

Tabelle 1:
Deutsche aufgeteilt nach Religionen
 in % (3)

Deutsche insgesamt

100,00

davon

Protestantisch

71,63

Jüdisch

24,88

Röm.-kathol.

2,39

Sonst.

1,10

Der weitaus größte Teil der Deutschbalten (also Personen deutscher Muttersprache) lebte in Kurland gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wie Tab. 2 deutlich zeigt, in den Städten, und zwar vor allem in Libau, Mitau und Goldingen:

Tabelle 2: Anteil der Deutschbalten an der Gesamtbevölkerung in den Städten und im übrigen Teil Kurlands nach der Anzahl und in % (4)

Städte

Gesamt-
bevölkerung

davon Deutsch

Anzahl

in % der
Gesamtbevölk.

Libau

64.489

15.353

23,8

Mitau

35.131

9.719

27,6

Goldingen

9.720

3.226

33,3

Tuckum

7.555

1.152

15,2

Windau

7.127

1.937

27,1

Bauske

6.544

2.387

36,5

Jakobstadt

5.829

329

5,6

Friedrichstadt

5.175

770

14,9

Talsen

4.200

623

14,8

Illux

3.652

134

3,7

Hasenpoth

3.340

1.194

35,7

Pilten

1.509

556

36,8

Grobin

1.490

242

16,2

Städte insgesamt

155.761

37.622

24,2

Übriges Kurland

518.273

13.395

2,6

Kurland insgesamt

674.034

51.017

7,6

Der in der obigen Tabelle angegebene geringe Anteil der Deutschbalten, der nicht in den Städten lebte, zeigt sich auch daran, dass nur 9,07% der Deutschbalten insgesamt dem Bauernstand (Tab. 3) angehörte.

Tabelle 3: Nationalitäten aufgeteilt nach Ständen in % (5)

 

7Deutsch

7Lettisch

7Jüdisch

Russisch

Erblicher Adel

5,79

0,01

0,00

5,13

Persönl. Adel und Beamte

3,18

0,08

0,09

3,04

Christl. Geistliche

0,85

0,02

0,00

0,92

Ehrenbürger

2,01

0,03

0,11

0,63

Kaufleute

1,38

0,01

0,40

0,31

Kleinbürger

70,04

3,12

97,66

35,09

Bauern

9,07

96,55

1,60

53,95

Ausländer

6,96

0,02

0,01

0,13

Sonstige

0,72

0,16

0,13

0,80

 

100,00

Wie aus obiger Tabelle ersichtlich ist, gehörten 13,21% der Deutschbalten zu den fünf oberen Ständen. Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu den Letten und Juden (Muttersprache Jiddisch), die in den oberen sozialen Ständen kaum, im Bauern- bzw. Kleinbürgerstand hingegen sehr erheblich  vertreten waren. Bei “Russisch” handelte es sich um Russen, die - da Kurland eines der drei russischen Ostseeprovinzen war - in vielen Fällen neben den Deutschbalten gehobene Posten in der Staatsverwaltung hatten.

Noch offensichtlicher wird die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung der Deutschbalten in Kurland, wenn man ihren Anteil an den Ständen vergleicht::   

Tabelle 4: Anteil  der Nationalitäten an den Ständen in % (5)

 

7Deutsch

7Lettisch

7Jüdisch

Russisch

Erblicher Adel

38,10

0,89

0,00

16,94

Persönl. Adel und Beamte

51,01

12,78

1,07

24,52

Christl. Geistliche

54,19

10,39

0,00

29,54

Ehrenbürger

72,41

9,81

2,96

11,43

Kaufleute

70,68

5,32

15,00

8,03

Kleinbürger

34,19

15,10

35,22

8,61

Bauern

0,84

88,89

0,11

2,52

Hiernach betrug der Anteil der Deutschbalten beim erblichen Adel mehr als ein Drittel, bei den vier anderen gehobenen Ständen sogar mehr als die Hälfte der zu dem jeweiligen Stand gehörenden Personen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass zu  den Deutschen statistisch auch Personen jüdischen Glaubens mit deutscher Muttersprache gezählt wurden, die nur in Ausnahmefällen den oberen Ständen angehörten.

Tabelle 5: Anteile der Nationalitäten an der Gesamtbevölkerung in % (6)

Gesamtbevölkerung

100,00

davon

Deutsch

7,6

Lettisch

75,1

Jüdisch

5,6

Russisch

3,8

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Deutschbalten im russischen Gouvernement  Kurland 1897 laut Tab. 5 mit  nur 7,6 % der Gesamtbevölkerung im Verhältnis zu den Letten mit 75,1% nur eine kleine Minderheit waren. Dennoch hatten sie eine Bedeutung,  die - wie  z. B. die obige Ständestatistik zeigt - weit über ihren zahlenmäßigen Anteil hinausging. Es waren jedoch nicht alle Deutschbalten, sondern laut Tab. 3  nur 13% von ihnen, also lediglich eine Minderheit innerhalb der Minderheit, welche den oberen fünf Ständen angehörten. 70 % der Deutschbalten wurden in der Statistik den Kleinbürgern zugerechnet.

Die Mehrheit der Bevölkerung bestand aus  Letten, die ihre volle Emanzipation erst mit der Gründung der Republik Lettland erreichen konnte. Die Unab- hängigkeit Lettlands war ein Ergebnis des ersten Weltkrieges, womit zugleich die jahrhundertelange Vorherrschaft der Deutschbalten in Kurland beendet wurde. Zwei  Jahrzehnte danach verließen im Rahmen von Umsiedlungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Lettland (1939) bzw. der Sowjetunion (1941) fast alle Deutschbalten Lettland und somit auch Kurland.(7)

 

Anmerkungen
(1)  S. dazu: Brigitte Roth: Die Variable “Muttersprache” in der russischen Volkszählung von 1897. In: Henning Bauer, Andreas Kappeler, Brigitte Roth (Hrsg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Band A, Stuttgart 1991, S. 144 ff.
(2) Baltische Bürgerkunde. Versuch einer gemeinverständlichen Darstellung der Grundlagen des politischen und sozialen Lebens in den Ostseeprovinzen Russlands, Riga 1908, S. 111 f.
(3) Zahlenangaben aus: F. Mager: Kurland , Hamburg 1920, S. 76.
(4) Ebd., S. 66 und Tab. 1 > dort.
(5) F. Mager, Kurland, a. a. O., S.73.
     Bei den Muttersprachen muss hier entsprechend der Volkszählung zwischen “Russisch”
     und  “Weißrussisch” bzw. “Ukrainisch”. unterschieden werden.
(6) F. Mager, Kurland , a. a. O., S .61.
(7) Vgl. hierzu: Die Umsiedlungen der Jahre 1939 bis 1941 und ihre Folgen. In:
     Sozialgeschichte der baltischen Deutschen, hrsg. v. Wilfried Schlau, Köln 1997, S. 22 ff.

> Die Gliederung der Bevölkerung in Kurland nach Ständen 1854

H.B.

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