Herbert Becker : Kurland ( Genealogie )

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Die Kaufmannsgilde ( Große Gilde )
zu Libau in Kurland und ihre Mitglieder
 im 18. und  frühen 19. Jahrhundert

Ein Beitrag zur Geschichte und Genealogie der Deutschbalten
von Herbert Becker

Teil 2 / 5

Noch deutlicher hob sich Libau, besonders was das Verhältnis zum Adel betraf, von seiner ländlichen Umgebung ab, denn in Kurland galt, wie der baltische Rechtshistoriker Oswald Schmidt in Anlehnung an einen Ausspruch von Rousseau meinte: „Der Adel Alles, der Fürst nichts, die Städter weniger als nichts“.(23)

So war das ausgehende 18. Jh. in Kurland sozialgeschichtlich gekenn- zeichnet durch zunehmende Spannungen zwischen dem Bürgertum und dem das Land beherrschenden Adel. 1790 vereinigten sich die kurländischen Städte mit ihren Bürgern, vor allem den Advokaten und Kaufleuten, im Kampf gegen die Vorrechte des Adels. Hierbei nahm in der „Bürgerlichen Union“, wie dieser Zusammenschluß später genannt wurde, Libau und somit die dort dominierenden Kaufleuten eine führende Stellung ein. Da in Libau nur die Kaufmannsbürger, nicht aber der Adel ratsfähig waren, standen sie in dieser Hinsicht in der sozialen Hierarchie Libaus am Ende des 18. Jhs. noch über dem Adel, von dem sich die selbstbewußten Libauer Kaufleute schroff abgrenzten.(24) Ihr Vorbild war zu jener Zeit nicht der Adel, sondern vielmehr der Rigaer Patrizier.(25)

Im Vergleich zum immatrikulierten kurländischen Adel war - wie Biographien Libauer Kaufleute des 18. Jhs. zeigen - die Libauer Kaufmann- schaft gegenüber anderen sozialen Schichten nicht vollständig abgeschlossen. Aus den Biographien werden typische Lebenswege deutlich, die von der kaufmännischen Lehre über die Gesellenzeit bis zur Etablierung als Libauer Kaufmannsbürger und Gründung einer Familie führten:

Etwa im Alter von 16 Jahren begann eine zumeist sechsjährige Lehrzeit bei einem der etablierten Libauer Kaufleute. Hierzu mußte der „Junge“ bei der Wette vorgestellt und gegen eine Gebühr eingeschrieben werden.(26) Nach erfolgreichem Abschluß der Lehre wurde der „Kaufmannsbursche“ von der Wette freigesprochen und konnte dann als „Kaufgeselle“ bei einem Kaufmann „in Kondition gehen“, d. h. in einem Angestelltenverhältnis tätig werden.(27)

Die Kaufgesellen mußten - wie die unverheirateten Kaufleute - der Libauer „Blauen Garde“ beitreten. Diese Stadtgarde diente ursprünglich der Verteidigung, später aber mehr der Repräsentation. Sie hatte auch soziale Funktionen und war der eigentliche korporative Zusammenschluß der Libauer Kaufgesellen. Die Kaufgesellen waren beim Eintritt in die Blaue Garde durchschnittlich 23 Jahre alt. Etwa im Alter von 28 Jahren wurden sie Mitglied der Großen Gilde und erwarben damit das Libauer Bürgerrecht. Zuvor mußten sie in einer feierlichen Zeremonie den Bürgereid schwören und danach eine Aufnahmegebühr (1776: 80 Floren) entrichten (28) Erst dadurch konnten sie sich als selbständige Kaufleute in Libau etablieren, was zumeist auch die Voraussetzung dafür war, eine Familie gründen zu können. Nach ihrer Heirat, bei der sie im Durchschnitt 32 Jahre alt waren, schieden sie aus der Blauen Garde aus. Sie wurden dann in die “Grüne Garde” übernommen. Dieser Stadtgarde gehörten nur die verheirateten Mitglieder der Großen Gilde an.

Das soziale Spektrum der Libauer Kaufmannschaft reichte vom armen Höker und Krämer bis zum wohlhabenden Seehandelskaufmann und Stadtpatrizier. Dementsprechend waren die privaten und auch beruflichen Lebensverhältnisse der Kaufleute unterschiedlich. Herausragende Beispiele sind die Lebenswege der beiden befreundeten Libauer Kaufleute Lorenz Joachim Huecke und Anton Witte (29). Sie stifteten testamentarisch ihr beträchtliches Vermögen zur Gründung eines Waisenhauses (1798), das sozialgeschichtlich für Libau von erheblicher Bedeutung wurde.(30) Eine Gedenkschrift zum hundertjährigen Bestehen des Waisenhauses vermittelt ein anschauliches Bild vom Leben dieser beiden Libauer Kaufleute des 18. Jhs.:

„Schon im jugendlichen Alter sind sie darauf bedacht, sich selbst den Unterhalt zu erwerben. Mit geringen Mitteln vereinigen sie sich zur gemeinsamen kaufmännischen Thätigkeit. Sie fahren selbst, wie Anfänger im Handel das zu jener Zeit zu thun pflegten, als sogenannte ,Landfahrer“ bei Gutsbesitzern und Landleuten in Kurland und Litauen umher, um Landesprodukte aufzukaufen und diese an Kaufleute in der Stadt gegen gangbare Ware (Salz, Heringe, Eisen etc.) auszutauschen oder gegen Barzahlung zu verkaufen. Es ist ihnen, wie sie später versicherten, sehr sauer geworden, die ersten ´Dusend Dahler` zu gewinnen. Doch in wenigen Jahren vergrösserte sich ihr Geschäft in dem Masse, dass sie in unmittelbare Verbindung mit dem Auslande, namentlich mit Hamburg, Bremen, Lübeck und Holland treten und 1741 ein eigenes Speditions- und Kommissionsgeschäft eröffnen konnten, das unter der Firma Witte und Huecke bis zum Jahre 1797 bestehend,  im grössten Ansehen stand. Durch redliche Arbeit, unermüdliche Thätigkeit, weise Sparsamkeit, streng geregelte Lebensweise, durch Umsicht und Geschick waren die beiden Kompagnons in verhältnismässig kurzer Zeit zur Wohlhabenheit gelangt.“(31)

Was den Handel betrifft, so schrieb der kurländische Landesbeamte Ulrich von Schlippenbach Anfang des 19. Jhs., sei der Libauer Kaufmann „größtenteils ebenso redlich als vorsichtig“.(32) Nach einer „Beschreibung der Provinz Kurland“ aus dem Jahre 1805 waren die weitaus meisten Kaufleute, die den für Libau sehr wichtigen Getreidehandel betrieben, Kommissionäre.(33) Da diese gemäß bestimmten Aufträgen, bei denen Preis und Menge vorge- geben sei, nicht auf eigene Rechnung handelten, würden sie zwar keine großen, dafür aber risikofreie Gewinne erzielen. Besonders lohnend sei für die Libauer Kaufleute die Spedition gewesen, denn Libau hätte diesbezüglich bis zum Anschluß an Rußland (1795) fast alle Städte Kurlands bedient. Nach dem Fortfall der bisherigen Zollgrenze zwischen Kurland und Rußland wäre durch Riga eine für Libau starke Konkurrenz im Speditionsgeschäft entstanden.

Der Lebensstil Libauer Kaufleute wird in der zitierten zeitgenössischen Quelle als sehr konservativ charakterisiert. Ihre Lebensart sei durch „steife Anhänglichkeiten an ihren alten Gebräuchen“ gekennzeichnet gewesen. Beispielsweise hätte sich bei ihnen lange die plattdeutsche Mundart erhalten. Die Libauer Kaufmannsgesellschaft bestünde aus Familienzirkeln, die Fremden mit Ausnahme einiger durchreisender Kaufleute verschlossen blieben.(34

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Anmerkungen

(23) Oswald Schmidt: Rechtsgeschichte Liv-, Est und Curlands. Dorpat 1894
(Ndr. 1968), S. 228.

(24) Es gab in Libau nur wenige Fälle, in denen Angehörige von Kaufmannsfamilien den Adel erwarben. Beispiele waren die Familien Bienemann, Bordehl und Janckewitz, die gegen Ende des 18. Jhs den römischen (deutschen) Reichsadel erhielten. Dagegen war es im 19. Jh. durchaus möglich, daß Söhne aus Libauer Kaufmannsfamilien als Staatsbeamte den Adel bekamen, wie das Beispiel des Titularrats Lorenz Friedrich Becker, Sohn des Stadtältesten der Libauer Kauf- mannsgilde, Johann George Heinrich Becker, zeigt:

Friedrich Lorenz Becker in Mitau / Kurland

Ausschnitt aus: Roland Seeberg-Elverfeldt, Die kurländische Literatenfamilie Becker ,
in: Baltische Ahnen- und Stammtafeln, 20. Jg. (1976), S. 48.

(25) S. Karl Wilhelm Cruse: Curland unter den Herzögen. Mitau 1833-37
(Ndr. 1971), Bd. 1, S. 321.

(26) Laut Wettordnung von 1710 oblag der Wette auch der Schutz der
Handelslehrlinge und -gesellen.

(27) Vgl. hierzu Alexander Wegner (wie Anm. 22), S. 70.

(28) Ebd., S. 102.

(29) S. Kurzbiographien von > Huecke und > Witte.

(30) Das hinterlassene Vermögen betrug fast 150.000 Reichstaler Alb. (Das Witte- und Hueckesche Waisenhaus zur Wohlfahrt der Stadt Libau 1798-1898. Libau 1898, S. 11).
Zum Vergleich: Der Direktor des Libauer Hafenzollamtes erhielt zu jener Zeit ein Jahres-
gehalt von 400 Talern (lt. Etat des Hafenzollamtes Libau. In: Heinrich Storch: Historisch-
statistisches Gemälde des Russischen Reiches am Ende des achtzehnten Jahrhunderts.
T. 8. Leipzig 1803, S. 401 f.).

(31) Das Witte- und Hueckesche Waisenhaus (wie Anm. 30), S. 8 f.

(32) Ulrich Freiherr von Schlippenbach: Malerische Wanderungen durch Kurland. Riga u. Leipzig 1809 (Ndr. 1973),S. 85.

(33) Peter Ernst von Keyserling / Ernst Gotthard von Derschau: Beschreibung der Provinz Kurland. Mitau 1805, S. 237 f.

(34) Ebd., S. 244

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