Herbert Becker : Kurland ( Genealogie )

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Die Kaufmannsgilde ( Große Gilde )
zu Libau in Kurland und ihre Mitglieder
 im 18. und  frühen 19. Jahrhundert

Ein Beitrag zur Geschichte und Genealogie der Deutschbalten
von Herbert Becker

Teil 3 / 5

Der oben beschriebene Typ des Libauer Kaufmannsbürgers bildete sich im 17. und vor allem im 18. Jh. heraus. Hierbei war der Beginn des 18. Jhs. für die Entwicklung der Libauer Kaufmannschaft von besonderer Bedeutung, denn in jene Zeit fielen einschneidende Ereignisse:

Nachdem der Hafenbau (1698-1703) die Voraussetzung für den Auf- stieg Libaus zur wichtigsten Handelsstadt Kurlands geschaffen hatte, wurde bereits wenige Jahre später (1710) die Stadt von der Pest schwer getroffen. An dieser Seuche starben wahrscheinlich mehr als ein Drittel der Bevölkerung Libaus, so daß die Einwohnerzahl der Stadt beträchtlich zurückging (1709:  ca. 3000 Einw., dagegen 1716: ca. 2000 Einw.).(35) Bei den Kaufmanns- bürgern war es wohl mehr als die Hälfte, die der Pest zum Opfer fiel.(36) So gab es am Ende des 18. Jhs. in Libau nur noch wenige Kaufleute, die aus einer Kaufmannsfamilie stammten, die bereits vor 1710 in Libau ansässig war (z. B. Harring, von der Horst, Laurentz, Vahrenhorst, Vögeding).(37)

Die weitgehende Entvölkerung Kurlands durch die Pest von 1710 und der wirtschaftliche Aufschwung Libaus, der aufblühende Handel während des 18. Jhs., durch den Libau sich zu einem „kurländischen Genua“ entwickelte (38), boten vor allem den zahlreichen Zuwanderern aus Deutschland gute Erwerbschancen.(39) Im Gegensatz zu den Libauer Handwerkern, von denen viele aus Mitteldeutschland stammten, kamen die Kaufleute überwiegend aus Norddeutschland, zunächst aus Lübeck, später in zunehmender Zahl aus dem nahen Ostpreußen. Insbesondere für viele deutsche Kaufgesellen wurde Libau durch seine günstige geographische Lage an der Ostsee und an der wichtigen Überlandstraße Memel-Riga das Tor zum Baltikum.(40) Die starke Zuwande- rung von Kaufgesellen nach Libau zeigte sich auch daran, daß zwischen 1750 und 1802 nur 32 % der Mitglieder der Libauer Blauen Garde (Kaufgesellen und ledige Kaufleute) Libau als ihren Herkunftsort angaben.(41)

Für die Wanderungsbewegung der Kaufgesellen hatte Libau während des 18. Jhs. die Funktion einer Drehscheibe, denn ein großer Teil von ihnen blieb nicht dauerhaft in Libau. Von 388 Kaufgesellen und ledigen Kaufleuten, die nicht aus Libau stammten und zwischen 1750 und 1802 der Blauen Garde angehörten, erwarben etwa 45 % nicht das Bürgerrecht, sondern zogen aus Libau fort. 56 der 388 Kaufgesellen und ledigen Kaufleute kamen aus dem nahen Memel. Von ihnen kehrten 15 nach Memel zurück und wurden dort Mitglied der Kaufmannszunft. Der überwiegende Teil der Kaufgesellen blieb jedoch in Libau und erwarb dort das Bürgerrecht. Von den 184 Kaufgesellen und ledigen Kaufleuten, die zwischen 1750 und 1802 Mitglieder der Blauen Garde waren und aus Libau stammten, ließen sich dort 71 % als Kaufmanns- bürger nieder. Bei den 388 zugewanderten Kaufgesellen und ledigen Kauf- leuten waren es hingegen nur 47 %.

Was die soziale Herkunft betrifft, so kamen von 174 in Libau geborenen Kaufmannsbürgern und Kaufgesellen, die zwischen 1750 und 1802 der Blauen Garde angehörten, (42) 70 % aus der Familie eines Kaufmanns- bürgers, 9 % aus der eines anderen Bürgers der Großen Gilde, 3 % aus der einer „Literatenfamilie(43)“ und 15 % aus einer Handwerkerfamilie.(44)

Außerdem ist die Frage von Interesse, in welchem Maße Kaufmanns- bürger in Libauer Kaufmannsfamilien eingeheiratet hatten: Von 73 Kauf- mannsbürgern, die in Libau verheiratet waren und von dort auch stammten, hatten 68 % die Tochter eines Kaufmannsbürgers geheiratet. Bei nicht aus Libau stammenden verheirateten 103 Kaufmannsbürgern waren es 73 %.(45)

Ende 1799 waren im Stadtmagistrat, der aus 11 (davon 4 in Libau geborenen) Kaufmannsbürgern bestand, lediglich 3 Söhne, aber 9 Schwieger- söhne von Kaufmannsbürgern vertreten. Noch deutlicher wird das Ergebnis, wenn die nächste politische Führungsebene, die Stadtältestenbank der Großen Gilde, in die Untersuchung einbezogen wird: Von 61 Kaufmanns- bürgern, die zwischen 1783 und 1817 zu Stadtältesten der Großen Gilde gewählt wurden, stammten 49 % aus Libau, waren 36 % Söhne von Libauer Kaufmannsbürgern und 16 % von Ratsherren, heirateten 66 % Töchter von Libauer Kaufmannsbürgern und 26 % Töchter von Ratsherren.

Die genannten Zahlen zeigen, daß diese für die städtische Selbst- verwaltung Libaus entscheidenden Institutionen zwar ausschließlich durch Kaufmannsbürger besetzt waren, die dort vertretenen Kaufmannsbürger aber nur zum Teil aus der Libauer Kaufmannschaft stammten oder durch Heirat mit dieser verbunden waren. Somit war auch in diesem Bereich der Libauer Kaufmannsstand aufgrund vielfältiger verwandtschaftlicher Verbindungen nicht von anderen sozialen Schichten abgeschlossen.

Besondere Bedeutung hatte in der Libauer Ständegesellschaft das Ver- hältnis zwischen Kaufmanns- und Handwerksbürgern. Sie waren während des 18. und frühen 19. Jhs. in unterschiedlichen Gilden und Stadtgarden organi- siert und somit institutionell scharf voneinander abgegrenzt. Auch sonst legte die Kaufmannschaft im gesellschaftlichen Leben Libaus großen Wert darauf, sich von den Handwerkern abzuheben.

Daher ist es bemerkenswert, daß einige angesehene Kaufleute aus Handwerkerfamilien stammten und auch sonst zwischen Libauer Kaufmanns- und Handwerkerfamilien oftmals enge verwandtschaftliche Beziehungen bestanden.(46) So kamen 16 % der in Libau geborenen und dort zwischen 1750 und 1802 der Blauen Garde angehörenden Kaufleute aus Hand- werkerfamilien.(47) Von 176 in Libau verheirateten Kaufleuten, die zwischen 1750 und 1802 Mitglied der Blauen Garde waren, heirateten 6 % in die eines Libauer Handwerkers und 4 % in die eines auswärtigen Handwerkers ein.(48)

Selbst auf der Ebene der Stadtältesten der Großen Gilde gab es verwandtschaftliche Verbindungen zwischen Kaufmanns- und Handwerker- familien. So waren Ende 1799 von den zehn Stadtältesten der Großen Gilde mindestens drei (Foege, Kogge, Wegner) Söhne von Handwerkern, die der Kleinen Gilde angehörten.

Ein Beispiel, wie durch Heirat ständeüberschreitende Bindungen entstanden, war der Kaufmann und Stadtälteste der Großen Gilde, Johann George Heinrich Becker , der 1790 Catharina Schickedanz , eine Tochter des Libauer Nadlermeisters und Stadtältermannes der Kleinen Gilde, Christian Schickedanz, geheiratet hatte.(49)

Für die Beurteilung der sozialen Mobilität in der Libauer Stände- gesellschaft sind die Biographien von einigen nicht aus Libau stammenden Kaufmannsbürgern und -gesellen aufschlußreich. Hierbei sind besonders bemerkenswert die Lebensläufe von 39 ehemaligen Zöglingen aus dem Lübecker Waisenhaus, die während des 18. Jhs. zu einem der etablierten Libauer Kaufleute in die Lehre gegeben wurden.(50) Sie entstammten zumeist den unteren sozialen Schichten ihrer Heimatstadt. 19 von ihnen blieben nach ihrer Lehrzeit in Libau, und zwar 14 als Kaufmannsbürger.

Wie bei einigen anderen Kaufgesellen, die nach Libau kamen, gelang der soziale Aufstieg zu geachteten Kaufmannsbürgern vor allem auch durch die Einheirat in eine der älteren Libauer Kaufmannsfamilien. Manchen von ihnen wurden, nachdem sie sich als Kaufleute etabliert hatten, angesehene und einflußreiche städtische Ämter - wie Stadtältester, Ratsherr, Gerichtsvogt, Bürgermeister - übertragen. Herausragende Beispiele hierfür sind die ehemaligen Zöglinge des Lübecker Waisenhauses Hans Peter Spieß und Hermann Heinrich Stender sowie der aus einer armen Memeler Schneider- familie stammende Christian Gottlieb Unger.(51)

Mitunter war es nicht die erste, sondern eine der folgenden Generationen, die in den Libauer Rat aufstiegen: So war der Bürgermeister Johann Friedrich Eckhoff der Enkel eines Zöglings des Lübecker Waisen- hauses, der nach seiner Lehrzeit in Libau Kaufmannsbürger wurde.(52)

Die Zugehörigkeit zu einer der in Libau etablierten Kaufmannsfamilien zeigte sich oft durch ein Wappen, wobei einige der Zugezogenen dieses schon aus der alten Heimat mitbrachten.(53) Die Wappenführung war auch in Libau ein charakteristisches Zeichen für die familiäre Herkunft und damit - wie überall in der ständischen Gesellschaft - von erheblicher Bedeutung. Selbst die bereits erwähnten, aus dem Lübecker Waisenhaus stammenden Kauf- mannsbürger Spieß und Stender hatten sich, nachdem sie in Libau sozial aufgestiegen waren, Wappen zugelegt.

> Teil 4

Anmerkungen

(35) Nach den Notizen des damaligen Stadtältermannes der Großen Gilde, Heinrich Romberg, ist sogar anzunehmen, daß mehr als die Hälfte der deutschen Einwohnerschaft Libaus an der Pest gestorben war. S. Libau”s Vorzeit (wie Anm. 14), S. 50.

(36) Da die Sterbefälle im Libauer ev.-luth. Kirchenbuch 1710 nur noch teilweise eingetragen werden konnten, sind lediglich Schätzungen möglich. Nach seinen Unterlagen hat der Verf. folgenden Bestand an Kaufmannsbürgern in den Jahren vor und nach der Pest ermittelt: Ende 1708: 103 Bürger, Ende 1710: 44 Bürger. Unter Berücksichtigung der „normalen“ Bestands- veränderung ergibt sich als Schätzung, daß 56 Kaufmannsbürger (also mehr als 50 % des Bestandes von 1708) an der Pest gestorben waren.

(37) S. Verzeichnis der Kaufmannsbürger Ende 1799, in:  Herbert Becker , Die Kaufmanns- bürger der Großen Gilde zu Libau in Kurland , a. a. O., Anh. 1. Die dort genannten Personen sind auch im Verzeichnis der Kaufleute mit genealogischen Angaben > online aufgeführt.

(38) Alexander Wegner (wie Anm. 22), S. 27.

(39) Der Zuzug von Kaufleuten war derart stark, daß 1786 der Stadtältermann der Großen Gilde, Christian Perlrnann, die Zahl der handelnden Bürger als „überspannt“ bezeichnete. Die verlockenden Handelsmöglichkeiten hätten „sehr viele lüstern“ gemacht, sich in Libau niederzulassen, „um eigene Schmiede ihres Glücks zu werden“ (Zustände in unserer Stadt in den 80-ger Jahren des 18. Jahrhunderts. In: Deutscher Haus-Kalender für das Jahr 1936. Liepaja 1935, S. 131-140, hier S. 135).

(40) S. Tab. 1

(41) Diese und die folgenden Zahlenangaben ergeben sich aus Tab. 1.

(42) In der Zahl der in Libau geborenen Kaufgesellen und ledigen Kaufleute (174) sind nur diejenigen erfaßt, bei denen Libau vor allem durch die Kirchenbücher als Geburtsort ermittelt werden konnte. Daher ist diese Zahl nicht identisch mit der Zahl der Kaufgesellen, die bei der Anmeldung zur Blauen Garde Libau als Herkunftsort angegeben hatten (184).

(43) Als „Literaten“ galten in Kurland Personen mit akademischer Ausbildung (z. B. Juristen, Pastoren).

(44) Die Zahlenangaben sind in Tab. 2 differenziert nach Kaufmannsbürgern und Kaufgesellen.

(45) S. Tab. 3.

(46) Z. B. war der Libauer Kaufmann und Bürgermeister Christian Gottlieb Unger der Sohn eines armen Schneiders (> Kurzbiografie).

(47) Vgl. Tab. 2, dort aufgegliedert nach Kaufmannsbürgern und Kaufgesellen.

(48) Vgl. Tab. 3, dort aufgegliedert nach Kaufmannsbürgern, die aus oder nicht aus Libau stammten.

(49) Vgl. Herbert Becker: Familie Becker aus Libau in Kurland. In: Archiv Ostdeutscher Familienforscher , Bd. 15 (2003), S. 513-522, hier S. 515 (> online).

(50) S. Erik Amburger: Die Kinderprotokolle des Lübecker Waisenhauses 1691-1841 als Quelle zur Bevölkerungsgeschichte des Deutschtums der östlichen Ostsee. In: Baltische Familiengeschichtliche Mitteilungen 9 (1939), Nr. 2, S. 24-38;
Erich Gercken/Arthur Hoheisel: Lübecker in Libau. In: Lübecker Beiträge zur Familien- und Wappenkunde, H. 18, 1980, S. 3-21.

(51) Bürgermeister Unger war Sohn „von armen, aber achtenswerten Eltern“
(Das Inland [wie Anm. 20] 1838, Sp. 159). S. auch > Kurzbiografie.

(52) Vgl. >  dort.

(53) S. hierzu mit Beispielen und Wappenbeschreibungen Ernst Fedor Spehr: Altlibauer Bürgerwappen. In: Libauschcr Haus-Kalender für das Jahr 1926. Libau 1925, S. 122-130,

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