Herbert Becker : Kurland ( Genealogie )

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Die Kaufmannsgilde ( Große Gilde )
zu Libau in Kurland und ihre Mitglieder
 im 18. und  frühen 19. Jahrhundert

Ein Beitrag zur Geschichte und Genealogie der Deutschbalten
von Herbert Becker

Teil 5 / 5

Wie die Nachkommen der oben erwähnten Libauer Kaufmannsfamilie Becker, so zogen während des frühen 19. Jhs., also nach dem Anschluß Kurlands an das Russische Reich, viele junge Kaufleute oder ihre Söhne aus Libau fort und suchten in anderen Teilen Rußlands, vor allem in Mitau, Riga und St. Petersburg neue berufliche Chancen. Das hatte vor allem wirtschaft- liche Gründe: Im Vergleich zum Aufschwung im 18. Jh. war der Libauer Handel im frühen 19. Jh. von Stagnation gekennzeichnet. Das russische Handels-, Steuer- und Zollrecht untergrub das Handelsmonopol der Libauer Kaufleute und bevorzugte andere, mit Libau konkurrierende russische Hafen- städte. Damit hatten sich die wirtschaftlichen Bedingungen, die im 18. Jh. in Libau zum Aufblühen des Handels und damit der Kaufmannschaft führten, nachhaltig verschlechtert.

Jedoch auch unter diesen veränderten Verhältnissen blieb die Domi- nanz der deutschbaltischen Kaufleute in Libau bis weit in das 19. Jh. hinein erhalten. So schrieb der Schriftsteller Johann Georg Kohl, der auf seinen Reisen auch Libau besuchte, in einem 1841 veröffentlichten Bericht: „Die Kaufleute Libaus sind ohne Ausnahme lauter Deutsche  Selbst die mit dem Inlande verkehrenden und dem Großhändler die Waaren überliefernden Vermittler sind hier blos Deutsche (anders als in Riga und Petersburg). Die drei hauptsächlichsten Handelshäuser sind jetzt Harmsen, Sörensen u. Comp. und Hagedorn. Diese drei beschäftigen jährlich ein Capital von etwas mehr als 2.000.000 Rubeln und haben also mehr als ein Drittel des ganzen Handels der Stadt in Händen.”(74)

Nicht nur im Handel, auch in der städtischen Selbstverwaltung Libaus blieb die Vorherrschaft der deutschen Kaufmannschaft während der ersten Hälfte des 19. Jhs. erhalten. So bestätigte das „Provinzialrecht der Ostsee- gouvernements“ von 1845 das alte Recht, wonach die Ratsherren vom Rat aus den Mitgliedern der Großen Gilde gewählt wurden, sodaß auch weiterhin nur Kaufleute dem Rat angehören konnten.(75) Andererseits waren jedoch - wie erwähnt - durch die russische Zoll-, Handels- und Steuerpolitik die wirtschaft- lichen Rahmenbedingungen für die Libauer Kaufleute ungünstiger geworden.

Die sich im 19. Jh. vollziehenden Veränderungen betrafen aber nicht nur die Wirtschaft, sondern sie spiegelten sich auch im Standesbewußtsein der Libauer Kaufleute wider. So schrieb dazu aus eigener Anschauung ein anonymer Verfasser in einer baltischen Wochenschrift:

„Wie in keiner Stadt Kurlands gibt es hier [in Libau um 1820] einen tüchtigen Bürgerstand, der sich seines Werthes und seiner Kraft wohl bewusst war. Deswegen aber mied der Kurische Adel die Stadt und wählte sie nicht gern zum Aufenthalt. Wenn die Kurischen Städte treffend die Domestiken-Stuben und Absteigequartiere des Adels genannt worden sind, so galt das wenigstens damals nicht für Libau. Denn der hier herrschende selbstständige Geist der reichen, unabhängigen Kaufherren und des biedern derben Gewerksmanns beleidigten seinen Stolz.“(76) 40 Jahre später, also um 1860, stellte der gleiche Autor fest, hätten sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt. Bedauernd meinte er, „daß das frühere Selbstgefühl des Mittelstandes“ auch in Libau verschwunden sei und „daß auch sonst tüchtige Männer zu dem Umgange mit Adligen sich drängen, um sich gelegentlich von ihnen als leere Luft behandeln zu lassen“.(77)

Max Weber, der Altmeister der deutschen Soziologie, definierte den Begriff „Stand“ als einen Verband, der unter anderem durch eine „ständische Sonderschätzung“ gekennzeichnet sei und in welchem „ständische Sonder- monopole“ in Anspruch genommen würden.(78) Folgt man dem oben zitierten Urteil eines Zeitgenossen über die gewandelten Verhältnisse in Libau, dann war die „ständische Sonderschätzung“ und - wie vorher dargelegt - auch das „ständische Sondermonopol“ der Libauer Kaufmannsbürger weitgehend erloschen.

Wie in den anderen russischen Ostseeprovinzen (Livland und Estland) wurde auch die Entwicklung in Kurland während des 19. Jhs. zunehmend geprägt von den Auseinandersetzungen zwischen den deutschbaltischen Partikular- und den übergeordneten Staatsinteressen des Russischen Reiches. Die von fiskalischen Interessen des russischen Staates bestimmte, zwar eng begrenzte, aber doch sich nachhaltig auswirkende Modernisierung geriet zwangsläufig in Widerspruch zu den auf der alten Ständeordnung gegründeten Vorrechten. Das führte dazu, daß die privilegierte deutschbaltische Ober- schicht, „altmodische Verhältnisse gegen moderne Prinzipien, Ständerecht gegen Staatsrecht, das Mittelalter gegen die neue Zeit verteidigen musste“.(79)

Auch den Libauer Kaufleuten ging es um die Verteidigung alter Rechte, die sie durch liberale Neuerungen für gefährdet hielten. Eine solche Neuerung war das Anfang 1799 im „liberalen Geiste“ von der russischen Regierung erlassene Gesetz, wonach die Juden in Kurland, also auch in Libau, Siedlungs- und Wohnrecht erhielten. Damit verbunden war das Recht auf wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Selbstverwaltung sowie die rechtliche Gleichstellung mit anderen Nationalitäten.(80) Ausdrücklich heißt es in diesem als kaiserlichen Befehl publizierten Gesetz, daß es den „Ebräern“ erlaubt werde, „den bürgerlichen und Kaufmannsgewerb [,]...  nachdem sie sich in den Städten zur Bürgerschaft haben einschreiben lassen, zu treiben“.(81)

Offenbar im Zusammenhang mit dieser Liberalisierung und der dadurch befürchteten Konkurrenz wandten sich der Stadtältermann und die Stadtältesten der Großen Gilde in einer Petition an den russischen Kaiser und baten ihn unter Hinweis auf das Libauer Stadtprivileg, „unsere alten Rechte und Privilegien zu schützen“.(82) Diese Petition war vergeblich, denn zwischen 1803 und 1807 erließ die russische Regierung weitere Bestimmungen „zur Verbesserung der Zustände der Ebräer“, wobei den „Ebräern“ ihre „bürgerlichen Rechte gleich den christlichen Untertanen“ bestätigt wurden.(83)

Auf der anderen Seite verlor während der ersten Hälfte des 19. Jhs. unter dem Einfluß des russischen Handels- und Steuerrechts die Große Gilde mehr und mehr an Bedeutung. Entscheidend für die Teilnahme am Handel, insbesondere an dem für Libau wichtigen Seehandel, wurde nicht mehr die Mitgliedschaft in der Großen Gilde, sondern die in einer der russischen Steuergilden.(84) Hinzu kam, daß die Mitgliedschaft in den höchsten Steuer- gilden mit Rechten und Ehren verbunden sein konnte, die weit über Handels- rechte hinausgingen. So konnten zum Beispiel Kaufleute, die längere Zeit diesen Gilden angehörten, in den Stand der „Erblichen Ehrenbürger“ aufgenommen werden.(85)

Die nach russischem Recht gebildeten “Gilden” hatten mit den auf  altem deutschen Stadtrecht beruhenden Gilden kaum mehr als nur den Namen gemeinsam. Im Gegensatz zu den alten “deutschen” Kaufmannsgilden kam es bei diesen “russischen” Gilden weniger auf die Herkunft als vielmehr auf das zu versteuernde Vermögen an. Durch sie wurde die auf alten ständischen Privilegien gegründete monopolartige Stellung der Libauer Kaufmannsgilde(Großen Gilde) ausgehöhlt.

Mit Einführung der russischen Städteordnung (1877), wonach auch in Kurland anstelle von Rat und Gilden eine gemäß Dreiklassenwahlrecht gewählte Stadtverordnetenversammlung trat, verlor die Große Gilde in Libau auch in politischer Hinsicht ihre frühere Bedeutung. Als schließlich die Große Gilde 1936 aufgrund des lettischen Gesetzes über die Industrie- und Handelskammer liquidiert werden mußte, hatte „die älteste deutsche Organisation unserer Stadt ein Ende gefunden“.(86

 

Anmerkungen

(74) J.  G. Kohl: Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen. T. 1. Dresden u. Leipzig 1841,         S. 12 f. Auf die von Kohl genannten 3 Handelshäuser entfielen 1832 etwa 62 % des gesamten Libauer Außenhandels (Vgl. hierzu Tab. 5). Diese Handelshäuser waren zu jener Zeit auch die bedeutendsten Libauer Reeder (lt. Statistik in der „Beilage zum Libauschen Wochenblatt“,       Nr. 61, 31. 7. 1837).

(75) Provinzialrecht (wie Anm. 11), T. 2, § 1438.

(76) Libau's Vergangenheit und Gegenwart. In: Das Inland (wie Anm. 20) 1860,
Nr. 14, Sp. 273-277, hier: Sp. 275.

(77) Ebd., Sp.277.

(78) Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 5. revid. Aufl. Tübingen 1985, S. 180.

(79) Reinhard Wittram: Baltische Geschichte, Darmstadt 1973, S. 191.

(80) Deutscher Haus-Kalender für das Jahr 1936. Liepaja 1935, S. 118.

(81) Näheres mit dem Gesetzestext siehe Ruben Joseph Wunderbar: Geschichte der Juden in den Provinzen Liv- und Kurland, seit ihrer frühesten Niederlassung daselbst bis auf die gegen- wärtige Zeit. Mitau 1853, S. 50 ff. Vgl. auch Tatjana Aleksejeva: Die Juden im Herzogtum Kurland. In: Das Herzogtum Kurland 1561-1795. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. Hrsg. von Erwin Oberländer u. Ilgvar Misans. Lüneburg 1993, S. 153-169. - Trude Maurer: Die Westjuden des Russischen Reichs? Überlegungen zur Akkulturation der Juden in Kurland. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 54 (2005), S. 2-24.

(82) In ihrer Begründung führte die Stadtältestenbank an, daß der Kaiser entgegen dem Stadtprivileg befohlen hätte (gemeint war wohl das oben erwähnte Gesetz vom 14. 3. 1799), daß „Juden und Unchristen  alle Rechte hier genießen sollen wie unsere Bürger“ (Protokoll des Stadtältestenstandes der Libauschen Kaufmannschaft vom 25. 5. 1799, Lettisches Historisches Staatsarchiv, Riga, LVVA, 643. f., 1. apr., 11. l., 5. lp. > Kopie).

(83) Wunderbar (wie Anm. 81), S. 56.

(84) S. hierzu unter  „Kaufleute“ im Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. Hrsg. von Hans-Joachim Torke. München 1985, S. 199 f.

(85) Vgl. hierzu die Kurzbiographien von Friedrich Hagedorn, Jacob Gottlieb Harmsen, Friedrich Gottfried Schmahl, Heinrich Soerensen, Jens Koch. Zu dem von einigen  deutschbaltischen Großkaufleuten erreichten Stand der „Ehrenbürger“ s. Lexikon der Geschichte Russlands (wie Anm. 84), S. 105. Dieser in ganz Rußland 1832 eingeführte erbliche oder persönliche Stand muß unterschieden werden von der Ehrenbürgerschaft, die von der Stadt Libau verliehen wurde (z. B. 1824 an Samuel Gottfried Martini für dessen 50-jährige Tätigkeit als Handlungsgehilfe beim Kaufmann Sorgenfrey).

(86) Deutscher Haus-Kalender für das Jahr 1937. Liepaja 1936, S. 118.

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