Herbert Becker : Kurland ( Genealogie )

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Die Kaufmannsgilde ( Große Gilde )
zu Libau in Kurland und ihre Mitglieder
 im 18. und  frühen 19. Jahrhundert

Ein Beitrag zur Geschichte und Genealogie der Deutschbalten
von Herbert Becker

Teil 4 / 5

Die im 18. Jh. wirtschaftlich aufblühende See- und  Handelsstadt Libau bot ihren Kaufleuten über den Handel hinaus noch andere Erwerbs- möglichkeiten. So waren viele Kaufleute nicht nur Händler, sondern auch Brauer, Besitzer von Krügen, Schenken oder Herbergen.(54) Für einige der Kaufmannsbürger, darunter den Gerichtsvogt Johann Christian Grundt (55), war das Zollamt, in herzoglicher Zeit „Lizentamt“ genannt, eine wichtige Erwerbsquelle. Auch unter den Beamten des 1795 eröffneten russischen Zollamtes gab es ehemalige Libauer Kaufleute und Angehörige Libauer Kaufmannsfamilien. Diese Beispiele zeigen, daß die Tätigkeitsbereiche und dementsprechend die sozialen Verhältnisse der Libauer Kaufleute sehr unter- schiedlich sein konnten.

Aufschlußreich für die Vermögensverhältnisse innerhalb der Libauer Kaufmannschaft sind die Rechenschaftsberichte aus dem Libauer Armenhaus zwischen 1790 und 1819. Das Libauer Armenhaus wurde 1790 gegründet und zunächst von der gesamten Bürgerschaft, also von Kaufleuten und Handwerkern gemeinsam finanziert. Es mußte sich jedoch bereits nach wenigen Jahren wegen Auseinandersetzungen mit den Bürgern Kleiner Gilden (Handwerkern) auflösen.(56) 1795 wurde ein neues Armenhaus gegründet, das - diesmal ohne Beteiligung der Handwerker - im wesentlichen von den Kauf- leuten finanziert wurde.

Die in den Rechenschaftsberichten des Armenhauses aufgeführten Beträge, zu deren Zahlung sich die betreffenden Unterstützer verpflichteten, können als Maßstab für die Vermögensverteilung innerhalb der Kaufmann- schaft dienen.(57) Die höchsten Beiträge (ab 60 Floren)(58) wurden jeweils von etwa 11 Kaufleuten entrichtet.(59) Bezogen auf eine Gesamtzahl von rd. 5000 Einwohnern entspricht das etwa 0,2 % der Bevölkerung Libaus. Aus den Beitragslisten ist ersichtlich, daß zwischen 1796 und 1816 eine neue Gene- ration von vermögenden Kaufleuten als Spender auftrat, wobei die neuen Spender zumeist mit den früheren verwandtschaftlich verbunden waren, so daß anzunehmen ist, daß sie ihr Vermögen durch Erbe bzw. Einheirat erworben hatten.(60)

Zu den größten Beitragszahlern für das Armenhaus gehörten die Witwen von Kaufleuten.(61) Oft war es die Witwe, welche das Geschäft fort- führte, bis der Sohn, Schwiegersohn oder bei Wiederverheiratung der neue Ehemann die Handlung übernehmen konnte. In einigen Fällen war die Witwe auch Lehrherrin.(62) Die als Kaufleute handelnden Witwen hatten in der Gesellschaft und Wirtschaft Libaus während des 18. Jhs. auch von ihrer Anzahl her erhebliche Bedeutung, denn um 1740 waren in der „Rolle der Kaufmannszunft“ 28 Witwen verzeichnet, wobei es zu jener Zeit in Libau nur etwa 80 Kaufmannsbürger gab.(63)

An der Spitze der das Libauer Armenhaus unterstützenden Kauf- mannsbürger standen die Seehandelskaufleute. Sie bildeten in der See- und Handelsstadt Libau eine deutlich herausgehobene soziale Schicht, die ihrem Vorbild, dem Rigaer Patrizier, zumindest teilweise nahe kam. Manche von ihnen versuchten, ihr gesellschaftliches Ansehen noch zu erhöhen, indem sie den von Libauer Kaufleuten sehr begehrten Titel „Konsul“ anstrebten und sich um eines der im frühen 19. Jh. in Libau bereits bestehenden oder neu eingerichteten (etwa zehn) Konsulate bewarben.(64) Für die Ernennung zum Konsul mußten Empfehlungen vorgelegt werden, wobei geschäftliche und besonders verwandtschaftliche Beziehungen sehr hilfreich sein konnten.(65) Mitunter wurde das Konsulat auch an Familienangehörige übertragen, also gleichsam „vererbt“.(66)

Einen Einblick in die Einkommensverteilung zwischen den See- handelskaufleuten gibt ein Bericht über das Jahr 1812, als es darum ging, eine von der französischen Besatzungsmacht geforderte Kriegskontribution aufzu- bringen.(67) Hierbei kamen die Vertreter des Magistrats und der Kaufmann- schaft überein, daß die geforderte Summe nur von jenen Kaufleuten erbracht werden sollte, die in den vorangegangenen Jahren den Seehandel betrieben und „dadurch aus den Landes-Erzeugnissen große Vorteile genossen“ hätten. Insgesamt wurde eine Summe von 10.900 Reichstaler (Alb.) auf 18 Kaufleute bzw. Firmen verteilt, wobei auf 5 von ihnen 70 % der Gesamtsumme ent- fielen.(68)

Das zeigt, daß zu jener Zeit in Libau beträchtliche Vermögen auf verhältnismäßig wenige Seehandelskaufleute konzentriert waren. Um diese Vermögen in ihrer Entstehung und Entwicklung beurteilen zu können, ist die Kenntnis der zwischen den Kaufmannsfamilien bestehenden genealogischen Zusammenhänge von besonderem Wert, denn oft war das ererbte oder das von der Ehefrau eingebrachte Vermögen eine wichtige Voraussetzung für den Seehandel, der erhebliches Kapital erforderte.(70)

Bei der Durchsicht der Spendenlisten für das Libauer Armenhaus wird deutlich, daß den wenigen wohlhabenden Seekaufleuten eine weitaus größere Zahl minderbemittelter Kaufmannsbürger gegenüberstand. Um Kaufmannsbürgern, die aus Armut, wegen ihres Alters oder aus anderen Gründen ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten, wenigstens eine bescheidene Versorgung zu sichern, kam es öfters vor, daß sie von der Stadtkämmerei einen Posten als „ökonomische Beamte“ (z. B. als Stadtbraker oder Stadtwäger) erhielten, zumal sie als Kaufleute fachlich besonders geeignet erschienen.(70) Unter den ökonomischen Beamten der Stadtkämmerei befanden sich auch ehemalige Ratsherren und Stadtälteste der Großen Gilde.(71)

Ein Beispiel hierfür ist der Kaufmann und Stadtälteste Johann George Heinrich Becker. Als dieser - wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem 1795 beginnenden Niedergang des Libauer Handels - in Armut geriet, setzten sich die Kaufmannschaft und der Stadtältermann der Großen Gilde erfolgreich dafür ein, daß er wegen seiner „Verdienste um unsere Stadt als Stadtältester der Kaufmannschaft“ Beamter der Stadtkämmerei wurde.(72) Für den Lebensunterhalt einer Kaufmannsfamilie reichten jedoch diese Minimaleinkünfte auf Dauer kaum aus. Die Söhne des ehemaligen Stadtältesten verließen daher Libau. Einer von ihnen, Lorenz Friedrich Becker (* 1799), kam nach dem Tod seiner Mutter in das Libauer Waisen- haus, in welchem sein Vater in der Funktion als Stadtältester der Großen Gilde von 1799 bis 1813 Direktor war. Nach seiner Entlassung aus dem Waisenhaus wurde er Beamter zunächst in Libau, dann in Talsen / Kurland  und schließlich Titularrat in der kurländischen Gouvernementshauptstadt Mitau, wo er den Adel erhielt.(73)

> Teil 5

Anmerkungen

(54) In den 1797 zu Steuerzwecken als Teil der  Seelenlisten erstellten „Hauslisten“            (s. Anm. 8) sind 10 Krüge bzw. Schenken von Kaufmannsbürgern verzeichnet.
Zu vielen anderen Beispielen siehe Alexander Wegner: Libaus Handel und Gewerbe
im 18. Jahrhundert. In: Libauscher Kalender für das Jahr 1909. Libau 1908,
S. 111-148, hier ab S. 145.

(55) Genealogische Angaben > dort.

(56) Zu diesen und den folgenden Ausführungen siehe Johann Andreas Grundt: Anzeige alles dessen, was in dem neuen Liebauschen Wittwen- Waisen- und Arbeits-Hause ...  zu Stande gebracht worden. Anzeige 1-2. Mitau 1791-92; Johann Andreas Grundt: Neuen Armen- Buches (1. und 2.) Heft von der Stiftung, Verfassung und Erhaltung des neuen liebauschen Armen- und Arbeits-Hauses. Mitau 1796-97; Übersieht der Einnahme und Ausgabe der Armen-Versorgungs-Anstalt in Libau. Mitau 1817; Uebersicht der neuen Einrichtung und Verfassung des Libauschen Armenhauses und der Stadtarmen. Mitau 1820.

(57) Zur Beitragshöhe s. Tab. 4. Die Höhe der Beiträge hing nicht nur von der persönlichen Freigiebigkeit ab. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Bürger jeweils ziemlich genau über die Vermögensverhältnisse ihrer Mitbürger orientiert waren und ein erheblicher moralischer Druck bestand, sich angemessen an der Finanzierung des Armenhauses zu beteiligen. Wie die Rechenschaftsberichte zeigen, hatte in dieser Hinsicht der Gründer des Armenhauses, der Pfarrer der Libauer ev.-luth. Gemeinde, Johann Andreas Grundt, nachdrücklich auf die „Hartherzigen“ eingewirkt.

(58) Zum Vergleich: Um 1800 betrug das Jahresgchalt eines Direktors des Libauer Hafenzoll- amtes 400 Taler, d. s. etwa 1600 Floren (siehe Etat des Hafenzollamtes Libau [wie Anm. 30], S. 401 f.); Die Lebenshaltungskosten einer Akademikerfamilie in den kurländischen Städten betrugen zu jener Zeit schätzungsweise jährlich 600-800 Taler, d. s. etwa 2400-3200 Floren (Heinrich Bosse: Die Einkünfte kurländischer Literaten am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Ostforschung 35, 1985, S. 516-594, hier S. 550).

(59) Siehe Namen und Beitragshöhe in Tab. 4; Kurzbiographien > dort.

(60) Die (dort) dargestellten Kurzbiographien lassen in vielen Fällen einen solchen Vermögensübergang vermuten.

(61) So die Witwen von Hermann Heinrich Stender und Hermann Sorgenfrey (vgl. Tab. 4).

(62) Z. B. die Witwe von Johann Ulrich (I) Lange (Vgl. dazu auch die Kurzbiographien der Kaufmannsbürger Godenius und Hoepner).

(63) Tagebuch des Libauer Bürgermeisters Jürgen Schmidt, Abschrift im Stadtmuseum Liepaja (Libau)/Lettland (LM 7690), S. 157.

(64) Charakteristisch für die in dieser Hinsicht intensiven Bemühungen Libauer Kaufleute sind die Bewerbungen von Peter Emanuel Laurentz-Mester (1809) und nach dessen Tod (1836) von John Hagedorn und Johann Goebel um das oldenburgische Konsulat in Libau (Staatsarchiv Oldenburg, Best.15-16-35a, Bl. 7 f., 18 ff.,   29 f.).

(65) S. Kurzbiographien (> Verzeichnis A-Z).

(66) Beispiele sind die Libauer Kaufmannsfamilien Bienemann / Sorgenfrey, Trantz / Harmsen und Immermann (> Verzeichnis A-Z). In seinem Schreiben an die preußische Regierung vom 8. 12. 1803 bat der preußische Konsul in Libau, der Kaufmannsbürger Friedrich Fidejustus Immermann), seinen Sohn Peter Otto I., der ihn seit mehreren Jahren in den Konsulatsgeschäften unterstützt habe, als Vize-Konsul mit der Anwartschaft zum Konsul anzustellen. Die preußische Regierung entsprach seinem Wunsch (Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, I. HA Geheimer Rat, Rep.9, Z. Lit. E. 3. Fasz. 5,
„Konsulat in Libau 1784-1810“, Bl. 31 ff.)

(67) Alexander Wegner: Libau im Jahre 1812. In: Libauscher Kalender für das Jahr 1914. Libau 1913, S.145-160, hier S. 155

(68) Vgl. Tab. 5.

(69) Hierzu sei auf die Kurzbiographien der bedeutendsten Libauer Seehandelskaufleute hin- gewiesen (> Verzeichnis A-Z).

(70) Seit 1802 wurden die ökonomischen Beamten, die keine Befehle vom Magistrat anneh- men durften, von der Stadtkämmerei gewählt (lt. Alexander Wegner: Geschichte der Stadt Libau [wie Anm. 22], S. 110).

(71) In den Libauer Steuerlisten 1815 sind 11 Kaufmannsbürger, davon 4 ehemalige Rats- herren oder Stadtälteste, als Braker oder Wäger verzeichnet (7. Revision 1815. Oklad der Bürger christlicher Nation in der Stadt Libau, Kurländische Seelenlisten Städte Nr. 10 Libau, Bl. 14-60, Film Nr. C 98, Herder-Institut, Marburg; Kopien im Archiv des Verf.).

(72) Akte des Stadtältermannes der Großen Gilde im Lettischen Historischen Staatsarchiv, Riga (LVVA, 643. f., 1. apr., 619 1., 3. lp.; Kopie im Archiv des Verf.).

(73) Vgl. Herbert Becker: Familie Becker (wie Anm. 49), hier S. 516
(Urkunde über die Standeserhöhung im Archiv des Verf,).

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